
Digitale Betreuung nach der Intensivstation: „Wir konnten aus dem Feedback der Patientinnen und Patienten viel für unsere Arbeit mitnehmen“ | 5 Fragen an … Petra Hetfeld & Dr. Caren Martin zur Patientenrekrutierung im DISTANCE-Projekt
Viele ehemalige Intensivpatientinnen und -patienten leiden noch lange nach ihrem Klinikaufenthalt unter körperlichen und mentalen Beschwerden wie Konzentrationsstörungen oder Muskelschwäche. Derartige Symptombilder werden als „Post Intensive Care Syndrom“ (PICS) zusammengefasst und sind häufig mit einer Einschränkung der Lebensqualität verbunden. Um Betroffene besser zu begleiten und PICS systematisch zu erforschen, wurde im Digitalen FortschrittsHub DISTANCE die PICOS-App entwickelt. Sie ermöglicht Patientinnen und Patienten, ihren Gesundheitszustand im Alltag zu dokumentieren und liefert gleichzeitig wertvolle Daten für die Forschung. Im Rahmen der PICOS-Studie wird die App derzeit an insgesamt zehn regionalen Gesundheitseinrichtungen und Kliniken getestet – darunter am Universitätsklinikum RWTH Aachen. Petra Hetfeld und Dr. Caren Martin waren in Aachen für die Rekrutierung der Patientinnen und Patienten in die PICOS-Studie zuständig. Im aktuellen „5 Fragen an …“-Interview teilen sie ihre Erkenntnisse und Erfahrungen, die sie im direkten Kontakt mit den Teilnehmenden gesammelt haben.
Wie lief die Rekrutierung der Patientinnen und Patienten in die PICOS-Studie genau ab?
Petra Hetfeld: Mehrmals wöchentlich haben wir die Intensivstationen gescreent – also geprüft, welche Patientinnen und Patienten die Einschlusskriterien erfüllen: mindestens 24 Stunden beatmet oder 72 Stunden auf der Intensivstation, über 18 Jahre alt und kognitiv in der Lage, teilzunehmen. Diese Personen haben wir angesprochen, die Studie sowie die PICOS-App vorgestellt und – wenn sie interessiert waren – zur Teilnahme eingeladen. Die Aufklärung der Patientinnen und Patienten hat Frau Dr. Martin übernommen. Wenn sie eingewilligt hatten, wurde eine kleine Eingangsuntersuchung durchgeführt. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus konnten die Teilnehmenden die App nutzen und wurden dann zu Kontrolluntersuchungen nach drei, sechs und zwölf Monaten eingeladen.
Wie haben Sie selbst die Durchführung der Studie und die Zusammenarbeit mit den Patientinnen und Patienten erlebt?
Dr. Caren Martin: Wir waren positiv überrascht, wie offen viele Patientinnen und Patienten gegenüber Gesundheits-Apps sind. Vor allem die Möglichkeit, nach dem Klinikaufenthalt in Kontakt zu bleiben, wurde sehr geschätzt. Wir haben grob zwei Gruppen erlebt: technikaffine Patientinnen und Patienten, die großes Interesse daran zeigten, mit Apps und Wearables ihre Gesundheit zu tracken, und solche, die sich mit digitalen Angeboten schwertun. Außerdem haben wir festgestellt, dass die Patientinnen und Patienten insgesamt sehr dankbar für die intensivmedizinische Versorgung waren, die sie bei uns in Aachen erhalten haben. Sie fanden es darüber hinaus sinnvoll, mit ihrer Teilnahme zur Forschung beizutragen.
Petra Hetfeld: Herausfordernd war die Nachbetreuung: Viele haben im Alltag vergessen, Daten einzugeben oder Termine wahrzunehmen. Da haben persönliche Gespräche, Erinnerungen per Mail oder ein Anruf sehr geholfen – oft reichte ein freundliches Gespräch, um die Teilnehmenden zu motivieren.
Wer waren typischerweise die Patientinnen und Patienten, die an der Studie teilgenommen haben?
Dr. Caren Martin: Durch die bundesweite Rekrutierung in unterschiedlichen Kliniken war das Bild sehr heterogen. In Aachen haben wir vor allem herzchirurgische Patientinnen und Patienten einbezogen, da sie meist die geforderte Liegedauer erreicht haben. In anderen Häusern überwogen internistische oder unfallchirurgische Fälle. Altersmäßig lag der Schwerpunkt bei über 60-Jährigen, da Jüngere seltener so lange intensivpflichtig sind. Wenn doch, sind sie oft schnell wieder im Alltag und schwerer für Nachuntersuchungen oder die Nutzung der PICOS-App zu gewinnen.
Ende Juni wurde der letzte Patient für die Studie rekrutiert, nun beginnt die Auswertung. Was haben Sie persönlich aus dem DISTANCE-Projekt mitgenommen?
Petra Hetfeld: Für mich persönlich war es interessant, ehemalige Intensivpatientinnen und -patienten über den Zeitraum eines Jahres zu begleiten und den Heilungsprozess mitzuerleben. Normalerweise hören wir nie wieder von den Patientinnen und Patienten, nachdem sie uns verlassen haben. Durch die Studie haben wir mitbekommen, wie sie sich über den Zeitraum von drei, sechs und zwölf Monaten entwickeln – und wie lange es wirklich dauern kann, bis sie wieder vollständig am Alltag teilnehmen können.
Dr. Caren Martin: Als Intensivmedizinerin war es für mich besonders interessant, im Nachhinein von Patientinnen und Patienten zu hören, wie sie den Krankenhausaufenthalt erlebt haben. Gerade auf der Intensivstation sind sie aufgrund von Medikamenten, die wir geben müssen, oft in ihrer Wahrnehmung eingeschränkt – bekommen aber vieles unterschwellig mit. Aus ihrem Feedback können wir sehr viel für unsere tägliche Arbeit im Krankenhaus mitnehmen. Es freut mich, immer wieder von Patientinnen und Patienten zu hören, die sich gut bei uns aufgehoben gefühlt haben. Auch die Erkenntnis, wie unterschiedlich sich der Gesundheitszustand nach der Entlassung entwickelt, ist für zukünftige Versorgungskonzepte wichtig. Wenn es den Patientinnen und Patienten nach der Entlassung gut geht, ist es einfach schön zu sehen, dass die eigene Arbeit etwas gebracht hat – und dass die Menschen, die uns bei der Behandlung ans Herz gewachsen sind, wieder im Leben ankommen.
Patientinnen und Patienten profitieren vom DISTANCE-Projekt, weil …
Petra Hetfeld: … sie durch die Nutzung der App täglich ihren Gesundheitszustand reflektieren und so einen Überblick über ihre Entwicklung behalten.
Dr. Caren Martin: … ihre Daten uns helfen, typische Herausforderungen im Jahr nach der Intensivbehandlung besser zu erkennen. So könnten wir diese Probleme zukünftig vermeiden oder individueller therapieren. Langfristig hoffen wir, mithilfe von künstlicher Intelligenz Prognosen entwickeln zu können, zum Beispiel durch Deep Learning oder Large Language Models.
Über die Interviewpartnerinnen:
Petra Hetfeld ist Study Nurse am Innovationszentrum für Digitale Medizin des Universitätsklinikums RWTH Aachen. Sie betreut klinische Studien, dokumentiert Studiendaten und begleitet Patientinnen und Patienten über die gesamte Studiendauer hinweg. Darüber hinaus unterstützt sie DISTANCE im Projektmanagement.
Dr. Caren Martin ist Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin am Universitätsklinikum RWTH Aachen und ist am Innovationszentrum für Digitale Medizin in der Projektarbeit tätig. Im DISTANCE-Projekt betreut sie Patientinnen und Patienten vom Einschluss bis zur Nachbeobachtung und unterstützt das Projektmanagement sowie die Auswertung medizinischer Fragestellungen.