Von Virtuellen Patienten und Künstlicher Intelligenz auf der Intensivstation | 5 Fragen an… Konstantin Sharafutdinov

Die aktuell rasanten Entwicklungen in Künstlicher Intelligenz (KI) und Maschinellem Lernen bergen großes Potenzial für die Optimierung der Intensivmedizin. Beispielsweise können diese Technologien genutzt werden, um Krankheitsverläufe vorherzusagen und damit Verschlimmerungen vorzubeugen. In der praktischen Anwendung von KI auf der Intensivstation gibt es allerdings noch immer einige Herausforderungen: Für das Training entsprechender Vorhersagemodelle werden große Datenmengen aus unterschiedlichen Quellen benötigt. Da sich die Datenstrukturen zwischen den Krankenhäusern jedoch oft stark unterscheiden, kann es zu Verzerrungen in der Vorhersage kommen. An der Uniklinik RWTH Aachen hat sich eine Forschungsgruppe unter der Leitung von Prof. Dr. Andreas Schuppert, Professor am Institut für Computational Biomedicine an der RWTH Aachen University, dieser Problematik angenommen. Die Forschungsgruppe hat Virtuelle Patienten modelliert, die unabhängig vom Krankenhaus spezifische Merkmale von Patientenzuständen erfassen können. Erprobt wurde das Virtuelle Patientenmodell mit Hilfe von Daten zu akutem Lungenversagen (ARDS) aus dem ASIC-Use Case des SMITH-Konsortiums. Aus den Arbeiten dieser Forschungsgruppe entstand eine Publikation, die im Februar 2023 im IEEE Open Journal of Engineering in Medicine and Biology veröffentlicht wurde. Erstautor ist Konstantin Sharafutdinov, der von 2018 bis Februar 2023 als Doktorand im SMITH-Konsortium tätig war.

Im Interview mit ihm erfahren Sie, wie der virtuelle Patient KI-Technogien auf der Intensivstation unterstützen kann und wie die Zukunft der Künstlichen Intelligenz in der Medizin aussehen könnte.

Sie haben einen Master in Physik und schreiben Ihre Doktorarbeit zum Thema Künstliche Intelligenz (KI). Was hat Ihr Interesse an diesem Thema geweckt?

Meine Interessen waren schon immer interdisziplinär. In meinem Bachelor habe ich grundlegende Kenntnisse in Mathe und Physik gesammelt. Dort habe ich bereits einen ersten Einblick in die Welt des maschinellen Lernens bekommen. Meine Bachelorarbeit habe ich in einem Bioinformatiklabor geschrieben. Wir haben damals Genome von Bakterien von Patientinnen und Patienten und gesunden Menschen miteinander verglichen und die Unterschiede beschrieben. Da habe ich mich das erste Mal mit datenbasierten Methoden befasst. Nach meinem Master in Biophysik habe ich nach einer Doktorarbeit gesucht, in der ich diese beiden Welten, Biophysik und maschinelles Lernen, miteinander kombinieren kann. In der Forschungsgruppe von Professor Andreas Schuppert, die im Rahmen des ASIC-Projekts im SMITH-Konsortium gegründet wurde, habe ich diese Möglichkeit dann bekommen. Es ging damals um die Modellierung eines virtuellen Patienten für die Unterstützung von KI-gestützten Methoden. Wir wollten den virtuellen Patienten und Deep Learning zusammenbringen, um eine frühzeitige ARDS-Diagnose zu erreichen.

Sie hatten eben den virtuellen Patienten erwähnt. Was genau ist ein virtueller Patient und wie kann dieser bei der Entwicklung von KI-Anwendungen unterstützen?

Der virtuelle Patient ist ein Modell, das anhand von Gleichungen bestimmte Zustände von Patientinnen und Patienten beschreiben kann. Beispielsweise lassen sich das Herzkreislauf- oder das Beatmungssystem mit Gleichungen darstellen. Bringt man diese Gleichungen zusammen, lässt sich ein Modell draus bauen, das Variablen produziert, die auch auf der Intensivstation gemessen werden können, z. B. die Sauerstoffsättigung. Als Parameter werden in dieses Modell unbekannte Eigenschaften von der Patientin oder dem Patienten eingebaut, beispielsweise die Anzahl von geschlossenen Kompartimenten (Bereichen) in der Lunge während des ARDS. Diese modelliert die Pathophysiologie des ARDS. Das Modell soll Ergebnisse produzieren, die auch in den realen Daten existieren. Dafür versuchen wir Parameter für einen virtuellen Patienten zu finden, die den Unterschied zwischen den gemessenen Daten des realen Patienten und den Ergebnissen des Simulators so klein wie möglich machen. Wir erwarten, dass diese Parameter dann hilfreich sind, um den Zustand der realen Patientinnen und Patienten annährend abzubilden. Anstatt der gemessenen Daten können wir dann die Daten aus dem Modell nutzen, um die Entwicklung von ARDS zu verfolgen. Diese Daten können hinterher zur Entwicklung von KI-Systemen zur frühzeitigen Diagnose von ARDS verwendet werden.

Wieso ist es nützlich, für KI-gestützte Vorhersagesysteme Daten aus dem virtuellen Patientenmodell zu nutzen und nicht die realen Daten der Patientin oder des Patienten?

Wenn wir ein Modell basierend auf einem bestimmten Datensatz entwickeln, dann lernt das Modell die Datenverteilung von genau diesem Datensatz. Wenn ein anderer Datensatz, den wir in das Modell einspeisen, von dem Trainingsdatensatz abweicht, dann wird die Leistung des Vorhersagemodells schwächer. Das ist speziell in der Intensivmedizin ein Problem, weil die Daten aus verschiedenen Krankenhäusern unterschiedlich strukturiert sind. Dafür gibt es viele Gründe, z. B. unterschiedliche Aufnahmestrategien, Behandlungsstrategien und gemessene Ausgangswerte der Patientinnen und Patienten. Das heißt, wenn wir nur ein Krankenhaus als Standard nutzen, um ein Modell zu entwickeln, dann lernt das Modell die Merkmale des Zustands in diesem Krankenhaus und nicht die allgemeinen Eigenschaften des Zustands. Bei diesem Problem kommt der virtuelle Patient ins Spiel.
In unserer Studie haben wir für 1000 reale Patientinnen und Patienten mit Verdacht auf ARDS aus vier Krankenhäusern jeweils einen virtuellen Patienten erstellt. Die gemessenen Realdaten und die Daten aus den Virtuellen Patienten haben wir nach Patientinnen und Patienten mit ähnlichen Eigenschaften automatisch gruppieren lassen. Das Ergebnis: Die Originaldaten aus den Krankenhäusern haben sich nach Krankenhaus sortiert. Wurden die Daten von dem virtuellen Patienten gruppiert, konnte eine separate Patientengruppe mit diagnostiziertem ARDS gefunden werden. Die Unterschiede zwischen den Daten aus den unterschiedlichen Krankenhäusern wurden also kleiner. Dieses Ergebnis zeigt, dass Parameter aus dem virtuellen Patienten dazu beitragen können, die Generalisierbarkeit von KI-Modellen zu erhöhen. 

Welche Rolle werden Künstliche Intelligenz und Machine Learning in der Intensivmedizin zukünftig spielen?

Ich denke, KI und Machine Learning werden in Zukunft keine entscheidende aber eine wichtige Rolle spielen – besonders bei der Unterstützung von Ärztinnen und Ärzten. In der Forschungsgruppe haben wir uns die kritischen Zustände Sepsis und ARDS angeguckt, die für Patientinnen und Patienten sehr gefährlich sind. Bei der Entwicklung von solchen Zuständen kommt es auf Stunden oder einen Tag an. Werden diese nur ein paar Stunden früher erkannt, können so viele Patientinnen und Patienten gerettet werden. Da sehe ich das Potenzial von unseren Modellen. Sie können wie klinische Entscheidungsunterstützungssysteme für die frühzeitige Identifizierung und Vorhersage verwendet werden. Diese Tools können Ärztinnen und Ärzten helfen, die Aufmerksamkeit auf diejenigen Patientinnen und Patienten zu richten, die beispielsweise innerhalb einer Stunde Sepsis entwickeln könnten.
Zweitens entwickelt sich die Medizin derzeit in Richtung personalisierte Medizin. Ich erwarte, dass KI-Methoden uns ermöglichen werden, individuell auf die Patientin oder den Patienten zugeschnittene, zielgerichtete Maßnahmen zur richtigen Zeit zu ergreifen. Wir dürfen dabei jedoch nicht vergessen, dass am Ende immer die Ärztinnen und Ärzte die letzte Entscheidung über die nötigen Maßnahmen treffen werden. Unsere KI-Tools werden nur der Entscheidungsunterstützung dienen, aber ich denke, sie werden die echten Ärztinnen und Ärzte niemals ersetzen.

Bitte beenden Sie folgenden Satz: Die Forschung im SMITH-Konsortium hilft bei der Verbesserung der Patientenversorgung, weil…

sie Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen zusammenbringt, um greifbare innovative Ergebnisse zum Wohle von Patientinnen und Patienten zu erzielen.